Noli me tangere!

Noli me tangere! - Juliane Jüttner. Hanna Nitsch. Ute Ströer

Von Christoph Kivelitz

Die Wendung „Noli me tangere“ ist dem Evangelium des Johannes entnommen (Joh 20,17 EU). Es ist der ins Lateinische übersetzte Ausspruch Jesu nach seiner Auferstehung an Maria Magdalena. Warnend stellt er sich ihrer Überraschungsgeste entgegen: „Berühre mich nicht“.

In diesen Worten verdichtet sich die Dramaturgie des Augenblicks zwischen Tod und Auferstehung, Präsenz und Absenz, Glaube und Unglaube. Die Auferstehung von den Toten ist vollzogen, doch tritt Jesus noch als Menschenbild – damit in sterblichem Gewand – in Erscheinung, ehe er mit der Himmelfahrt wieder in eine geistige Wirklichkeit eingehen wird. Es ist eine Schwellensituation zwischen unterschiedlichen Seins- und Bewusstseinskategorien. Es ist ein Motiv, in dem sich die ewige Sehnsucht nach Überwindung des Todes artikuliert.

 

 

Die Szene wurde zum Thema einer langen, weit verbreiteten und kontinuierlichen ikonographischen Tradition in der christlichen Kunst, von der Spätantike über die orthodoxe Ikone bis zur zeitgenössischen Kunst. Das Bild der Begegnung von Jesus und Maria Magdalena berührt das Verhältnis zwischen der haptischen und der optischen Wahrnehmung von Wirklichkeit. Das Bedürfnis, ein Gegenüber mit den Händen zu berühren und zu ertasten, steht für den Drang, eine größtmögliche Annäherung zu vollziehen, mit dem Anderen zu verschmelzen, diesen vielleicht sogar in dieser Berührung zu verinnerlichen. Wo diese Kontaktaufnahme dann jedoch untersagt ist, wird das Begehren nach Erkenntnis und Wahrheit auf das Sehen zurück verwiesen. Die Distanz zum anderen wird ausdrücklich behauptet und als Differenz gesetzt. Auf visueller Ebene ist Jesus zwar noch körperlich gegenwärtig, doch nicht mehr im Sinne einer berühr- und damit begreifbaren Körperlichkeit. Er tritt in Erscheinung in dem Moment, bevor er sich in eine andere Daseinsebene verflüchtigt, die allein spirituell, wenn überhaupt noch über die Augen – als Vision – erfahrbar ist, in der die Kategorie des Körperlichen aber keine Relevanz mehr hat.

 

Diese Ambivalenz von Ver- und Entkörperung bietet – losgelöst von dieser ursprünglich christlichen Metaphorik – einen besonderen Zugang zum Werk der drei Künstlerinnen Juliane Jüttner, Hanna Nitsch und Ute Ströer und erlaubt es, konzeptionelle Zusammenhänge in ihrem medial sehr unterschiedlichen Werk aufzuzeigen.

 

Die Tuschzeichnungen von Hanna Nitsch (* 1974 in Freiburg/Brsg.) gehen von der traditionellen Bildgattung des Porträts aus, um gleichzeitig den durch diese Konvention gesetzten Rahmen nahezu aufzusprengen. Das Zentrum des Ausstellungsraumes besetzt, von der Decke in den Raum schwebend, der vierteilige „Aaron-Block“. Dieser Werkkomplex zeigt den 8jährigen Sohn der Künstlerin in verschiedenen Rollenbildern, in denen sich unterschiedliche Verhaltensmuster und Bewusstseinsebenen des Jungen widerspiegeln. In Übergröße dem Betrachter gegenüber tretend, mutet er verletzt oder in sich gekehrt an, um andererseits fast aggressiv und abwehrend sich nach Außen zu wenden. Die vorherrschende Farbe Rot befördert die verschiedensten Assoziationen, erscheint sie doch zum Einen als eine Art Kriegsbemalung, gleichzeitig jedoch auch als Ausdruck von Verletztheit oder psychischer Erregung. Der vierteilige Werkblock bleibt in sich ambivalent und zeigt die unterschiedlichen, durchaus auch konträren Persönlichkeitsfacetten des sich in ein Identitätsbild spielerisch provokant hinein findenden Heranwachsenden.

In der großformatigen Zeichnung „Paradise“ ist eine Vielzahl von Motiven aus dem Werk der Künstlerin in eine Art Collage ineinander verschmolzen. Die dichte Komposition mutet an wie eine Art Traumvision, aus dem Gesichter, Masken, Dinge und Strukturen sich herauszulösen scheinen, um sogleich wieder im undurchdringlichen Strudel eines gestisch anmutenden Allover sich zu entwinden. Das Bemühen, ein zentrales Geschehen oder ein Thema auszumachen, scheitert permanent; wie in einem Film stellen sich immer neue Verknüpfungen und narrative Fragmente dar.

 

Juliane Jüttner (* 1972 in Wernigerode) zeigt figürliche Skulpturen von großem Realitätsgrad, die allerdings einer eigentümlichen Verfremdung unterzogen werden. Die Künstlerin zitiert das Schönheitsideal der Kunst des Klassizismus oder installiert barocke Allegorien, um jedoch das Konzept des schönen Scheins und hehrer Größe in einen aktuellen Bezugsrahmen einzubringen. Motive und Gesten werden mit Elementen der aktuellen Waren- und Konsumwelt konfrontiert und solchermaßen von ihren ikonographischen Deutungsmustern abgekoppelt. Es treffen unterschiedliche, nicht zu versöhnende Zeit- und Betrachtungsebenen aufeinander: Die Ewigkeitswerte einer religiös begründeten Kunst verdampfen in den heutigen medialen Bilderwelten, die im Moment ihres Erscheinens bereits durch neue Betrachtungsweisen und Verwertungsmöglichkeiten in Frage gestellt werden. Die Gestalt des „Weinenden Engels“ zitiert etwa eine religiöse Heilsfigur, die hier jedoch dem Erscheinungsbild eines zeitgenössischen Modejournals anverwandelt ist. Die tatsächlich weinende Figur steht für die Sehnsucht nach dem Übersinnlichen, so wie sie etwa auch in „weinenden Ikonen“ oder „Mariengestalten“ zum Ausdruck kommt. Andererseits entspricht das androgyne Äußere aktuellen Schönheitskanons und damit einem Körperkult, der mit dieser spirituellen Tradition gebrochen hat. Der „Altar“ von Juliane Jüttner zeigt ein dichtes Gedränge von Engelsfiguren in unterschiedlichen Szenen. In diesem Fall sind die Körper nicht mehr bis zum Äußersten geglättet und auch nicht unbedingt auf ein Schönheitsideal getrimmt. Die Figuren sind eindeutig mit männlichen Geschlechtsmerkmalen ausgestattet und teilweise mit praller Körperlichkeit in erotischen Szenen präsentiert. Der Betrachter sieht sich weniger in einer Andachtshaltung, wie es das Motiv des Altarbildes suggerieren würde, als vielmehr in der Rolle des Voyeurs, der ein nicht unbedingt für ihn bestimmtes Geschehen verfolgt. Das Physische, die auch körperhafte Berührung tritt hier gegenüber der kontemplativen Bedeutung der Bildtypologie des Altares in den Vordergrund, um aber gleichzeitig den unumstößlichen Zusammenhang von Religion und Erotik zu vergegenwärtigen.



Ute Ströer (* 1976 in Nordhorn) zeigt im Rahmen der Ausstellung zwei Kurzfilme. Der Film „Daumenlutscherin“ basiert auf der Geschichte vom „Daumenlutscher“ von Heinrich Hoffmann. Die Künstlerin versetzt sich selbst in einer Angstvision in den Protagonisten. Dabei gleitet sie allmählich in eine Art Schwebezustand, in dem sie ihren eigenen Körper durch Berührung erfährt. Gleichzeitig scheint sich ihr Körper in zahlreichen Auswüchsen zu erweitern, so dass das Daumenlutschen als quasi autoerotische Erfahrung erlebbar wird. Die Dramaturgie des Films spielt mit wechselnd zur Erscheinung gebrachten Oberflächen und Stofflichkeiten, die sich wiederum mit verschiedenen Geräuschen verbinden. Einem flatternden Stoff ist etwa das Schärfen und Klappern der Scheren hinterlegt. Die allmähliche Intensivierung dieses Klangs steht für die sich nähernde Gefahr und die am Ende stehende schreckliche Verstümmelung, mit der die Protagonistin einer Züchtigung in Gestalt einer symbolischen Kastration unterzogen wird. Da der Betrachter hier in Bereiche des Unterbewussten vorstößt, ist diese Deutung zwangsläufig subjektiv und provisorisch. Jedem Betrachter erschließt sich dieser Film in völlig unterschiedlicher Weise.

Der Film „Die schlafende Füchsin“ zeigt eine im Bett liegende Frau bei der Lektüre des Märchens „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ von Andersen. Die literarische Vorlage verschmilzt unmerklich mit der Imagination der Frau, bis deren wohlbehütete Welt zusammenbricht. Soghaft wird der Betrachter in die Vorstellungswelt eines Menschen hineingezogen, der lesend-träumend in eine andere Daseinsdimension übergeht. Der Welt der lesenden jungen Frau steht die des Mädchens mit den Schwefelhölzern antithetisch gegenüber. Das Geschenk von Schwefelhölzern löst bei ihr ein Begehren aus, die Sehnsucht, aus der Schäbigkeit und Begrenztheit des eigenen Umfelds auszubrechen. In einer Umkehrbewegung wird gleichzeitig bei der lesenden Frau das Traumbegehren erweckt, an der Welt unterdrückter Triebe teilzuhaben, so wie sie sich im Erscheinungsbild des Mädchens mit den Schwefelhölzern für sie verkörpert. Ganz allmählich verschmelzen die beiden Realitäts- und Bewusstseinsebenen der beiden jungen Frauen. Das Motiv wird für Ute Ströer Anlass, die durch Sexualität und Konventionen gesetzten Grenzen und Möglichkeiten des Überschreitens zu erkunden. Im Rückgriff auf ein Märchenmotiv, setzt sie intime Prozesse der Verwandlung und der Metamorphose in Gang. Durch Bilder und Spiegelungen, Licht und Schatten sowie durch nicht zu bestimmende Geräusche bringt sie eigene Sehnsüchte und Ängste, Träume und Alpträume zur Empfindung. Das am Ende stehende Spiegelmotiv vergegenwärtigt die Unmöglichkeit der Versöhnung der am Anfang formulierten Antithese.

Auf unterschiedliche Weise prägt sich also das Motiv des „Noli me tangere“ bei den drei Künstlerinnen aus. Während Hanna Nitsch die eigenen Zeichnungen selbst körperhaft in den Raum bringt, um dem Betrachter anhand von diesen das Berührungsverbot spürbar werden zu lassen, greift Juliane Jüttner religiös geprägte Wahrnehmungsmuster von Kunst auf, um Nähe und Distanz, den nicht zu überbrückenden Gegensatz haptischer und visueller Empfindungsweisen zur Anschauung zu bringen, gleichzeitig aber auch dabei sich auftuende Ambivalenzen auf gemeinsame Wurzeln hin zu untersuchen. Ute Ströer entwickelt diesen Spannungsbogen an der Erkundung des eigenen Körpers, an der Auseinandersetzung mit den Grenzen des Physischen, um hieraus einen Freiheitsraum für sich in Anspruch zu nehmen. Hier zeigt sich die überraschende Aktualität des ursprünglich christlichen Bildmotivs, an dem sich die Vielschichtigkeit und Gebrochenheit unserer medialen Bilderwelten, gleichermaßen aber auch psychologische Dimensionen zeitgenössischen Kunstschaffens manifestieren lassen.